Schlechte Altigkeiten
Eine Freundin regt sich auf social media über die Heucheleien von Berliner #stayathome-RomantikerInnen und selbsternannten Entschleunigungsgurus auf. „Zurecht?“ frage ich mich, und rege mich über das Aufregen auf. Dass der hektische Leistungs- und Konsumdruck des Turbokapitalismus durch Handels- und Ausgangsbeschränkungen zumindest temporär einer anderen Geisteshaltung weichen muss, liegt auf der Hand. Wie wird das wahrgenommen, was wir plötzlich aus überschüssiger Zeit und aufgestautem Tatendrang (nicht) zu machen gezwungen sind?
Es treten verschiedene Strategien auf den Plan: Manche suchen nach einem Schuldigen für die Misere, finden diesen gar in China und seinem scheinbaren Unvermögen, gegen illegale „Wet Markets“ vorzugehen, und frustrieren zwischen Verschwörungstheorien und Internetärzten vor dem Laptop. Andere fahren ihre Leistungsbereitschaft in ähnlichem Maßstab auf Notbetrieb herunter, wie Sebastian Kurz es –oft erwähnt- mit Österreich getan hat, und quarantieren in der Hängematte vor sich hin (die ersten warmen Frühlingstage legen diese Variante nahe).
Wieder andere verlagern den Tatendrang auf Heimarbeit und frenetisches Staubsaugen, oder seilspringen panisch einer anständigen Bikinifigur hinterher.
Dann gibt es noch jene, die ohnehin schon lange mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen wollten, diejenigen, die sich –abseits der strafenden Blicke- in Alkohol einzulegen versuchen und die, die einfach so weitermachen als wäre nichts. Ein paar Kunstschaffende übertragen Wohnzimmerkonzerte und lesen Selbstgeschriebenes auf Live-Kanälen, und einige Teenager schleichen sich auf geheime Partys, und legitimieren damit Jahrzehnte im Voraus, ihren Kindern einmal erzählen zu können, was sie während der großen Coronakrise von 2020 für Rebellen waren.
Die Strategien reichen von Verdrängung über Kompensation bis hin zu Neuanfang, und selbstredend treten auch -wenn nicht hauptsächlich- Mischformen auf.
Doch eines ist ihnen gemein: Die neue Krise bestimmt ihr Handeln. Okkupiert ihren präfrontalen Cortex. Und sie kann noch mehr. Sie lässt plötzlich Börsenriesen krachen, klärt die Luft über China und treibt Delfine zurück in Italiens Häfen. Sie verschafft der Welt eine Atempause. Und wenngleich Staatshäuptlinge und Finanzminister kaum positiv zu denken gestimmt sind, nimmt ein Großteil der Weltbevölkerung diese Phänomene als gute Neuigkeiten wahr. Glück im Unglück.
Ein Lichtblick durch die Chinesische Smogdecke, und vergessen sind die letzten beiden Krisen. Die schlechten Altigkeiten. Wie viele Krisen haben Platz im Menschlichen Gehirn?
Ich schlage die Zeitung von vor zehn Tagen auf – als man in Österreich noch wenig von Krise Nr. 3 spürte. Ein ausführlicher Bericht über die Erderwärmung und ihre Auswirkung auf den Menschen. Nach wenigen Absätzen muss ich die Zeitung weglegen. 1,5 ist meine persönliche Antwort. Vielleicht auch nur 1,2.
Recht hat sie, die Freundin: Keine/r rettet die Welt durch zuhause bleiben.