Still

Franziskusweg – Tag Drei

Ich habe beschlossen, da ein Erlebnis wie dieses zu Emotionalisierungen verleitet, alles mir wichtig erscheinende in Zahlen zu dokumentieren. Zahlen haben etwas absolutes. Sind erhaben über Interpretation. Und beruhigen daher ungemein.

Nachdem der dienstälteste Kellner gewonnen hatte, und mir ein blonder Jüngling die beste Pizza der Welt brachte (Momentaufnahme. Von der mittlerweile gewonnenen Distanz aus betrachtet kommt sie knapp unter die top ten), humple ich müden Fußes auf die hohe Matte. Die Nachtruhe stört nur ein sehr kleines, sehr schnelles Tier, welches sich herausnimmt, den kompletten Waldstreifen aufzumischen. Am nächsten Morgen sollte es sich als verliebtes Eichhörnchen (amer.) zu erkennen geben, und somit die nervösen nächtlichen Aktivitäten rechtfertigen.

Gestrige Dehydrationszustände wie warnende Dämonen um den Kopf, starte ich mit genügend Wasser um ein Aquarium (ebenfalls übertriebene Momentaufnahme –bestenfalls eines von diesen kugelartigen Goldfischbiotopen) zu füllen. Möchte starten. Dann wieder der Führer. Lässt mich nicht. Gehe falsch. Zurück. Wieder falsch. Zurück. GPS. Richtig. Böse Vorahnungen, mein etwas ambivalentes Verhältnis zu dem mittlerweile zerfledderten Führerheftchen betreffend beiseiteschiebend geht’s weiter. Und glatt. Der Weg ist so ausgezeichnet angezeichnet und angenehm ausgeschildert, dass ich beinahe auf Buch und GPS verzichten kann. Höhenmeter in der Hitze. Zeh(r)en. Aussicht entlohnt. Auf einem Brunnen steht „Aqua potabile“. Zwei mal. Da das Aquarium beinahe wieder ausgetrunken ist und der Google-Übersetzer empfangsbedingt beschlossen hat, mir inmitten der toskanischen Zivilisationslosigkeit seine Dienste nicht zur Verfügung zu stellen, fülle ich, ohne zu wissen, ob und/oder wie giftig es ist, Wasser in die leeren Flaschen. Weiter.

Der Führer bleibt heute mein Verbündeter, dafür meldet sich etwa in der Hälfte der Tagesetappe mein alter Erzfeind. Die rechte Schulter. Stechend und zwickend will sie mir weißmachen, Ballast wäre abzuwerfen. Doch so viel kann ich nicht essen.

Was heißt „potabile“? Die Frage terrorisiert wieder und wieder meine Gedankengänge. Bin ich im Besitz von flüssiger Erlösung oder trage ich seit Stunden unnötigerweise Gift mit mir herum? Aussichtsplattform. Panorama. Zum sterben. Google geht. „Trinkbar“.

Der Weg zum Kloster La Verna geht fast automatisch. Durch die Beschilderung und den Mangel an Alternativen kann lange Strecken meditativ gegangen/geträumt werden ohne stets in den mittlerweile schweißnassen UND zerfledderten Führer zu gucken. Ich erwache wieder in einem Eichenwald, wo mir Millionen Tonnen an Hinkelsteinen in Rohform die Sicht bereichern. Tatsächlich bilden die moosbewachsenen Giganten mit dem durch halbdichtes Geäst fallenden Nachmittagslicht und dem vor Friedfertigkeit nur so triefenden Rauschen um mich herum eine Atmosphäre, in der mir auch das plötzliche um die Ecke biegen eines fröhlich trällernden und Pilze pflückenden Miraculix keine Sekunde der Verwunderung abgenommen hätte. Und dann… (Tam Tam Tam)

Prominent wie David Hasselhoff zu Knight Rider-Zeiten. Thronend auf einer gigantischen, dreißig Metern hoher Hinkelsteinrohmasse. Das Kloster, in dem man nicht essen darf. –Meint zumindest die nette Dame, die mich und meine Brotzeit wieder in den Wald schickt. Macht aber nix. Ich komme vollen Bauches wieder und gönne mir. Dieses Panorama. Inmitten der von gravierten „Silencio“-Schildern schreienden Stille. Im Rausch der Reizüberflutung spreche ich zu mir selbst vom schönsten Platz, den ich kenne. Und kenne ihn noch gar nicht. Das muss nochmals nüchtern betrachtet werden. (vermutlich unter den top fünf – definitiv das Highlight der Reise)

Der Rücken schmerzt – die Glieder schmerzen – aber nichts tut so sehr weh wie die Tatsache, dass ich die nette Dame angelogen habe. Nachdem ich sie mit Händen und Füßen um eine Übernachtungsmöglichkeit bitte, sie mir diese im Kloster zusagt,  Bonbons schenkt und meinen Vornamen lobpreist (Que bello! King David…) antworte ich – einem mir noch nicht näher analysierbaren Instinkt folgend- auf die Frage nach meiner Religionszugehörigkeit mit Römisch-Katholisch.

Ich frage mich, ob ich Angst habe, das Bett sonst nicht zu bekommen (völlig unbegründet) oder es mir hier tatsächlich so gut gefällt, dass ich ein bisschen dazugehören möchte. (Die dritte und wahrscheinlichste Möglichkeit ist, dass die imposante Klosteranlage ihrem ursprünglich intendierten Zwecke noch heute gerecht wird, somit zur unreflektierte Ehrfurcht vor einer höheren Instanz verführt und dieser Sog  dem verwirrten und vom laufen völlig durchlässig gewordenen Pilger für kurze Zeit das richtig und falsch raubt. Tatsächlich ertappte ich mich kurz darauf bei dem Gedanken, der katholischen Kirche beizutreten um diese Ehrfurcht, diese Demut vor dem Nichts weiter zu spüren und an ihr/mir zu forschen. Eine hirnrissige Idee.)