Erleuchtung?

Franziskusweg – Tag Acht und Neun

Ich reise von nun an mit Giuseppe und Simone. Der Dicke hat heute Nacht wieder so unmenschliche Verendensmusik geschnarcht, dass mein good will letztlich auch übernächtigt das Handtuch geworfen hat. Den Rausch des Jahres noch tief in den Gedärmen sitzend (der btw inklusive Essen € 18,- ausgemacht hat) quäle ich mich mitten in der Nacht in den zweiten Schlafraum, wo ich wenige Stunden später mit allem anderen als Motivation aufwache. Im Supermarkt treffe ich die beiden angenehm unaufgeregten Süditaliener Simone und Giuseppe, und wir beschließen, nach dem Frühstücks-Cappuccino gemeinsam nach Gubbio aufzubrechen. Die sieben Stunden fühlen sich an wie drei weil die beiden durchaus auf meiner Wellenlänge schwimmen, was das sich an den jeweilig anderen sprachlichen Unzulänglichkeiten in englisch und italienisch Erheitern betrifft. Giuseppe ist Pizzabäcker aus Apulien. Simone Physiotherapeut in Bologna, beide jung und unzufrieden und gemütliche Tratscher. (Sie sollten mich von nun an bis zum Schluss begleiten). Tatsächlich bricht hier die Dokumentation etwas ein. Tag acht und neun verLAUFEN dank Giuseppe (Joe) und Simone außergewöhnlich unspektakulär. Wir gehen. Ihren Symbolen nach. Scheißen auf den Führer. Lernen uns kennen. Genießen. Essen. Trinken. Kindische Machosprüche (die Italienischen Männer sind deshalb weltweit die einzigen, denen chauvinistische Machosprüche verziehen werden, weil sie sich in deren Ausführung selbst –halbgewollt.- persiflieren) Ernsthaftes Interesse. Ich lerne italienisch. Sie englisch. Dank der beiden Mitzwanziger und ihrer Freude, für den doofen Turi zu dolmetschen, gibt es keine Verständigungsschwierigkeiten mehr. Sie quartieren uns gratis oder zu Spottpreisen in Pilgerunterkünften ein, erfragen Wege, Kirchen, Klöster, Brunnen, und manövrieren uns souverän in Lokale, die den höchst apulischen Ansprüchen Giuseppes genügen (jeder Pizzakoch hat schließlich das Essen neu erfunden). Ich hänge dran. Sprachlich nach. Doch nicht von ihnen ab. Der Spruch aus Kinderzeiten liegt auf der Zunge: Zusammen geht alles leichter. Vielleicht ist das meine Erleuchtung. Mein Zeichen. Dort Weggefährten zu finden, wo ich kurz vor dem Aufgeben bin und dank/mit ihnen Neues finde. Neues gehen. Ohne das nervige Diktatörchen. Den Wegschildern nach. Neues Essen. Feigen vom Baum. Zum niederknien. Und hochklettern. Neues Reden. In Italienisch und Italienglisch. Und neue Freunde. Zumindest für drei Tage. Danach auf Facebook. Gubbio (Tag acht) ist atemberaubend. Die Stadt kann nur hier stehen. Überall sonst würde sie aufgesetzt, deplatziert wirken. Nach fünfundzwanzig Kilometern Kraftmarsch treffen wir im Zeitloch auch Davide und Diego wieder. Zeitloch im Zeitloch. Das Dormitorio aus den 70ern in der Stadt aus den 1470ern (geschätzt. Nachträgich recherchiert: wesentlich älter). Fabio kommt später. Cresce. Pizza. Birra. Letto.

The five types of pilgrims you will find on any camino

  1. Giuseppe ist so viel Weltenbürger wie geht. Auf seiner Haut: Sanduhr, Kompass, Weltkarte. In seiner Haut: Forscherdrang, Unzufriedenheit, Ärger mit den Zuständigen. Er bäckt Pizzas, denn was soll er sonst tun. Neues ist beinahe zwanghaft immer gut. Englisch ist die Befreiungssprache. Sein Jahr in Australien der Eingang zum Fluchttunnel. Weil er Simone über alles liebt, verdreht er bei jedem zweiten seiner Worte die Augen.
  2. Simone ist kaum zu sehen hinter Haaren. In fünf Jahren wird er vor zweihundert Jahren eine Zirkusattraktion gewesen sein können. Den Habitus des unbeschwerten Pfadfinderjungen kauft man ihm ab. Nicht weil er ihn gut verkauft, sondern weil es nichts anderes zu kaufen gibt. Zukunft braucht er noch nicht. Er leistet sich Glücklichsein. Es kostet ihn zwei Gebete pro Tag. In seiner Freizeit: Kirchenlieder, Holzschnitzereien.
  3. Davide’s Camino hat mit Findung wenig zu tun. Er geht ihn, weil er alles andere schon gegangen ist. Flirten ist Wettbewerb. Der Kuss einer Fremden der Hauptpreis. Der Körper, an dem kein Fett sich anzusetzen traut, ist stetig sprungbereit, keine Bewegung plump oder überflüssig. Aus dem Trinkschlauch: ISO-Konzentrat. Aus dem Restaurant: Rohes Fleisch. Wenn er lacht geht die Sonne auf um nachzusehen, wer so einen Lärm macht. Wäre Diego nicht, würde er den Camino rennen.
  4. Diego spricht nicht. Er lehnt an seinem diegogroßen Diegorucksack wie ein Schluck Schokomilch in der Kurve. Tief sitzen die Augen. Tiefer noch sein Geheimnis. Südamerika versteckt er nicht. Er gehört hier nicht her. Italien ist ihm Mittel zum Zweck, weil er nicht auffällt und das Klima zu seiner DNA passt. Auch als Bäcker am Mailänder Bahnhof fällt er nicht auf. Doch das ist alles nebensächlich. Worum es bei ihm wirklich geht, wird niemand je erfahren. Wenn er etwas abnehmen würde, würde er verschwinden.
  5. Fabio geht nicht, er stampft. Spricht nicht; grollt. Isst nicht; vertilgt. Schnarcht nicht; scheppert. Er ist kein Hedonist, denn er weiß nicht, wie man das Wort schreibt. Sein Körper besteht aus Grinsen, Fett und Schweiß. Dass er den Camino schafft ist zwar ein Wunder, wer ihn beim Gehen beobachtet weiß jedoch, dass es ein unausweichliches ist. Die Beine (:) Walzen. Zweimeterfünf. Hundertzwanzigkilo. Das Essen, Trinken, Rauchen: Genuss durch Masse

Der Anmarsch nach Valfabrica verspricht eine Gewalt zu werden. Und hält Wort. Was mein mittlerweile in tiefster Rucksackverstauung schweigender Franziskusführer in zwei Kinderetappen aufteilt, nötigen Pepe und Simone mich, unter ein mal zu bewältigen. Am liebsten laufe ich –mittlerweile nur noch stur den in verschiedensten Farben von jeder Straßenlaterne grinsenden Pilgerweg-Symbolen folgend- in kontemplativer Manier etwa zwei Meter vor den beiden, während sie sich auf italienisch unterhalten. Die Sprache –schnell und abwechselnd gesprochen- entbehrt nicht einer meditativen Qualität. Und dank der drei überdominanten Themenbereiche Fußball, Essen und Frauen, innerhalb derer sich 80% aller männlicher italienischer Konversation abspielt, geht der Gesprächsstoff nicht einfach aus. Nie. In Teilgruppen treffen wir auf dem Weg auch die anderen wieder. Lassen voller aus der unverhofften Dreisamkeit geschöpftem Übermut alle (sogar den dreimeterbeinigen Diego) hinter uns. Schmerz. Sonne. Durst. Anstrengung. Die Motivationsachterbahn. Der Blutzuckerspiegel. Das alles verliert in der Gruppe ganz selbstverständlich seinen Problemstatus und wird zur Unannehmlichkeit geringen Grades.